Der Wachstumswahn

[HB] Der Ausgangspunkt meines Artikels „Wege aus der Schuldenkrise“ war das weltweite Schuldenwachstum, dem ein (Geld-)Vermögenswachstum in gleichem Umfang gegenüber steht. Im Folgenden geht es mir darum, einen Bezug zwischen dem Wachstum dieser beiden Größen einerseits und dem so viel beschworenen Wirtschaftswachstum andererseits herzustellen („Der Aufschwung kommt!“) sowie unseren Wachstumsbegriff zu hinterfragen.

Haben wir jemals gehört, dass 5% Wachstum vielleicht schlechter sein können als 2% Wachstum? Wenn Länder – wie bis vor kurzem China – zweistellige Wachstumsraten vorweisen können, werden sie in der Regel gefeiert. Es gilt: Je mehr Wachstum, desto besser. Diese Ideologie propagiert letztlich so etwas wie grenzenloses Wachstum, das dann ja – irgendwann mal – grenzenlosen Wohlstand für alle verheißen soll. In den 70er und 80er Jahren war Japan das China unserer Tage – bis die schuldenfinanzierte Wachstumsblase platzte (bezeichnenderweise zuerst am Immobilienmarkt) und eine mehr als 10 Jahre dauernde Rezession und Deflation auslöste.

Also wofür genau wird Wirtschaftswachstum benötigt? Auf übergeordneter Ebene lassen sich drei Zielsetzungen nennen:

  • Wohlstandssicherung bei Bevölkerungswachstum
  • Wohlstandsvermehrung bei konstanter Bevölkerungszahl
  • Gewinnwachstum der Wirtschaft

Was für die jeweilige Volkswirtschaft sinnvoll erscheint, hängt sicherlich u.a. von der Bevölkerungsentwicklung und vom allgemeinen Wohlstandsniveau ab. Gerade in der kaum noch wachsenden und überwiegend gesättigten westlichen Welt sollten wir uns daher kritisch mit zwei Fragen auseinandersetzen:
1.       Woraus besteht unser Wirtschaftswachstum?
2.       Welche Folgen hat es?

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Woraus besteht unser Wirtschaftswachstum?**

Das Wirtschaftswachstum eines Landes wird in der Regel an seinem Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen. Steigt das BIP von einer Zeitperiode auf die Nächste spricht man von Wirtschaftswachstum (beim „realen Wirtschaftswachstum“ ist der Wert inflationsbereinigt). In die Berechnungen des BIP fließen alle Waren und Dienstleistungen ein, die im jeweiligen Land für den Endverbrauch hergestellt werden.

Daraus wird mehreres ersichtlich:

  • Es gibt keine qualitative Unterscheidung der Waren- und Dienstleistungsangebote. Die Herstellung von Kriegswaffen trägt genauso zum BIP bei wie die von Feuerwehrwagen. Jede Arztrechnung und jeder Krankenhausaufenthalt fließt in diese Berechnung ein – d.h. also auch: je kränker wir werden, desto mehr wächst unsere Wirtschaft. Auf der anderen Seite fließen unbezahlte Leistungen, von denen wir als Gesellschaft profitieren (z.B. Kindererziehung, Pflege von Angehörigen und ehrenamtliche Tätigkeiten), nicht in das BIP ein. Der zuhause versorgte Gebrechliche erhöht das Wirtschaftswachstum nicht – im Gegensatz zum Platz in einem Pflegeheim.

  • Jede Form des Konsums erhöht das Wirtschaftswachstum. Die (Welt-)Wirtschaft wächst wesentlich schneller, wenn wir uns alle zwei Jahre ein neues Auto, einen neuen Fernseher, einen neuen Computer oder ein neues Handy kaufen, als wenn wir dies nur alle fünf oder 10 Jahre tun. Damit wir bei solchen Abwägungen nicht vielleicht zu falschen Schlüssen gelangen, kommt uns die Industrie helfend entgegen. Sie bietet nämlich in stetig steigendem Maße Produkte an, die nur eine bestimmte Lebensdauer haben und deren Komponenten zum Teil nur schwer austauschbar sind. Merke: Reparaturen hemmen das Gewinnwachstum im Gegensatz zum Neukauf.

  • Je mehr produziert und konsumiert wird, desto mehr Geld wird benötigt – sowohl für die Herstellung als auch für den Erwerb von Waren. Denn ohne Vollbeschäftigung und entsprechende Löhne landen die Unternehmenskredite nicht automatisch auch bei allen Konsumenten. Also benötigt nicht nur der Anbieter Kredite zur Finanzierung seines Produktionsprozesses, auch der Nachfrager wird gerne dazu animiert, auf Kredit zu konsumieren – sowohl durch die Angebote der Hersteller als auch die der Finanzanbieter. (Neu-)Verschuldung ist damit Teil des Wirtschaftswachstum-Systems.

Die zahlreichen neuen Regierungen in den hoch verschuldeten Peripheriestaaten der EU treten reihenweise mit dem Versprechen an, die Schulden zu begrenzen und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum anzutreiben. Glauben sie das, was sie da sagen? Und wenn ja, welche Vorstellungen der Funktionsweise unserer Wirtschaft liegt diesem „Glauben“ zu Grunde?

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Eine kurze Zusammenfassung der Schuldendynamik**

Wirtschaftswachstum wird in Zahlen also in Geld gemessen. Unser heutiges Geld entsteht nur durch Schulden und diese durch die Kreditvergabe von Banken. Die frühen Schuldner einer Wirtschaft, die am Anfang ihrer Entwicklung steht, sind überwiegend Unternehmen. Ist deren Schuldaufnahmefähigkeit gesättigt, folgt der Konsument, der ja auch gerne die ihm angebotenen Waren (und insb. Wohneigentum) besitzen möchte. Zu Beginn nehmen in der Regel noch diejenigen, die es sich auch leisten können, einen Kredit auf. Irgendwann lässt sich das Konsumrad aber nicht mehr weiter drehen, wenn nicht auch diejenigen mehr besitzen wollen, die es sich eigentlich nicht leisten können.

Nun kommt gerne der Staat ins Spiel! Durch Regulierungserleichterungen oder Subventionen ermöglicht er die Konsumsteigerung, ohne die das Wirtschaftswachstum nicht weitergehen kann (sei es direkt über Sozialleistungen oder indirekt über billiges Geld). Auf dieser Logik fußte die „Subprime-Krise“! Wenn irgendwann die schlechten Schuldner ihren Kapitaldienst nicht mehr leisten können (z.B. durch steigende Zinsen) oder überhöhte Immobilienpreise abstürzen, fallen reihenweise die Kredite der Banken aus. Um diese zu retten, verschulden sich die Staaten immer weiter – was eine gewisse Konsequenz hat, denn für deren Systemrelevanz haben sie ja durch entsprechende Deregulierungen selbst gesorgt. Und schließlich ist man beim sog. „lender of last resort“ (dem letzt-instanzlichen Kreditgeber): den Zentralbanken!

Solange unser derzeitiges, auf Wirtschaftswachstum beruhendes System am Leben erhalten werden soll, bleibt nur die Entscheidung zwischen weiterer Verschuldung oder Rezession. Wenn wir das für eine Wahl zwischen Pest und Cholera halten, gehen wir doch einen Schritt weiter, und fragen uns, ob wir uns dieses Wachstums-System weiter leisten wollen. Vielleicht hilft uns die folgende Betrachtung bei diesem Entscheidungsprozess weiter.

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Welche Folgen hat unser Wirtschaftswachstum?**

Im Jahre 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Report „Die Grenzen des Wachstums“. Hierin ging es weniger um die oben dargestellten Zusammenhänge, als vielmehr um die Unvereinbarkeit der Ideologie des unbegrenzten Wirtschaftswachstums mit den endlichen Ressourcen unserer Erde. Im Zuge dieser Auseinandersetzung fand der Begriff der Nachhaltigkeit Eingang in die Politik. Es bedurfte jedoch erst der Etablierung einer neuen Partei wie der Grünen, um ihm als Gegengewicht zu nüchternen Wirtschaftsinteressen Geltung zu verschaffen.

Doch in welchem Ausmaß hat diese Streitschrift wider den Wachstumswahn heute – also fast 40 Jahre später und über 30 Jahre nach Gründung der Grünen – das Denken der Wirtschafts- und Staatenlenker beeinflusst? Entspringt das derzeitige Streben nach Wirtschaftswachstum eher dem Ringen um die Bedürfnisbefriedigung vieler oder ist es Selbstzweck geworden, da es wahllos alles misst und wägt, was sich „verbrauchen“ lässt?

Der Blick klärt sich, wenn wir auf die Entstehung und die wirtschaftliche Motivation dieser Ideologie schauen. Industrialisierung und technischer Fortschritt (insb. bei Energieerzeugung und -transport) ermöglichten zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Massenproduktion und fanden in den zwanziger Jahren einen vorläufigen Höhenpunkt. Plötzlich konnten mehr Menschen am allgemeinen Wohlstand teilhaben, da günstiger produziert werden konnte. Viele Waren, die vorher als Luxus galten, waren für eine Mehrheit erschwinglich geworden. Das produzierende Gewerbe erlebte einen Boom, der erst durch die Weltwirtschaftskrise jäh gestoppt wurde. Die schöne Zeit des Konsumrausches schien schon wieder vorbei, kaum dass sie angefangen hatte.

Erinnern wir uns nun an Roosevelts „New Deal“  als amerikanische Antwort auf die Depression der dreißiger Jahre sowie an das Wirtschaftswunder auf den Trümmern eines zerbombten Europas. Beide gründeten sich auf einer Wachstumsideologie, die den Konsum um seiner selbst willen in den Mittelpunkt der Industrie- und Wirtschaftspolitik stellte. Dies geschah zu einer Zeit, in der Ressourcenverbrauch und eine nachhaltige Begrenzung der Ausbeutung unseres Planeten weder ins Auge der Politik noch der (Wirtschafts-)Wissenschaft gerückt war. Der Wachstumsbegriff, der noch heute dem politischen Handeln zu Grunde liegt, stammt aus jener Zeit.

Doch was ist seitdem geschehen?

Die Entdeckung des (Wegwerf-)Konsumenten als notwendigen Faktor des Wirtschaftswachstums hat u.a. zu einem Paradigmenwechsel bei den Ingenieuren geführt. Aus der Herausforderung, Produkte mit möglichst langer Haltbarkeit zu schaffen, die im besten Falle „nicht kaputt zu kriegen“ sind, wurde die Aufgabe, Produkte mit einer möglichst planbaren Vergänglichkeit zu kreieren. So wurde die Idee des Produkt-Lebenszyklus geboren, der das Design über die Haltbarkeit stellte. Auf den Pfeilern von Werbung, Kredit und ‚Neukauf statt Reparatur‘ entstand ein Wirtschaftsverständnis, das die Steigerung der Konsumbedürfnisse vieler über die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller stellte.

Auch aufgrund des weltweiten Konkurrenzkampfs um Wachstumsanteile wird bis heute bei der Preiskalkulation eines Produkts Entscheidendes viel zu wenig berücksichtigt: der Ressourcenverbrauch bei Entstehung und Transport sowie die Folgekosten seiner Vernichtung. In der Folge dieses Versäumnisses reisen Bestandteile von bspw. Lebensmittel- oder Textilprodukten mehrfach um die ganze Welt – und zwar nicht um Überleben zu sichern, sondern um ein übersteigertes Genussbedürfnis zu befriedigen. Und der von unserer „Wohlstandsgesellschaft“ in weiterhin steigendem Maße produzierte Elektroschrott (wie z.B. ausgemusterte Computer und Handys) wird in Afrika endgelagert und vergiftet dort Mensch und Natur.

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Fazit**

Wollen wir fortfahren, Rohstoffe und Arbeitskraft in zunehmendem Maße in Müll zu verwandeln? Fragen wir uns doch bitte, ob wir auch künftig den eigenen Wert vornehmlich über Besitzstreben definieren müssen. Ob wir unsere natürlichen Bedürfnisse nach Anerkennung und sozialem Status weiterhin über den Wunsch nach einem Mehr an Konsumgütern und Statussymbolen befriedigen wollen?

Bejahen wir diesen Lebensstil, dann sollten wir uns aber auch nicht mehr über zunehmende Verschuldung, Verarmung der Wachstumsverlierer, leer gefischte Meere, vergiftete Landstriche und ansteigende Meeresspiegel beklagen. Bereits der Zusammenbruch der globalen Finanzmärkte, aber spätestens der kaum noch aufzuhaltende Kollaps unseres Ökosystems werden uns schmerzhaft ins Bewusstsein bringen, dass Glück und Lebensqualität keine Fragen des Konsumniveaus sind. Und dass wir als soziale Lebewesen unsere Identität am ehesten wiederfinden, wenn wir uns als Teil einer größeren Gemeinschaft und der Natur begreifen.

Mahatma Gandhis Mahnung, dass die Welt groß genug ist für die Bedürfnisse aller, aber zu klein für die Gier Einzelner, ist heute aktueller denn je. Bedauerlicherweise hat diese Erkenntnis auch über 60 Jahre nach seinem Tod weder das politische Handeln noch das Anspruchsverhalten des Einzelnen maßgeblich beeinflusst. Unser heutiger Konsumbegriff, der auf der herrschenden Wirtschaftswachstums-Ideologie beruht, führt sowohl zum Interessenkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie als auch zur Überschuldung der Volkswirtschaften. Daher kann meines Erachtens eine Wirtschaftspolitik der Zukunft nur dann nachhaltigen Bestand haben, wenn sie andere Zielparameter definiert als quantitatives Wirtschaftswachstum.

Wann fangen wir als Piraten an, ein Alternativmodell zu formulieren?

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Quellennachweise:**

Dieser Artikel wurde u.a. motiviert durch den Film „Kaufen für die Müllhalde“.

Weitere Quellen: