[aj] Nach einer alten Fußballer-Weisheit ist „Knapp daneben doch vorbei“. Nur 75 Unterschriften haben gefehlt, um das offizielle Quorum in Essen für das Bürgerbegehren kulturgutEssen zu erreichen. Die Enttäuschung lässt sich nicht verhehlen. Die Aktiven haben sich für kulturgutEssen intensiv eingesetzt und noch bis zum letzten Tag der Frist circa 3000 Unterschriften mehr gesammelt als offiziell benötigt werden. Es sollte dann doch nicht sein. Dieses Mal noch nicht.
Wir wollten mit diesem Bürgerbegehren in erster Linie die Einrichtungen im kulturellen Bildungsbereich schützen. Gleichzeitig wollten wir einer Politik Einhalt gebieten, die suggeriert, neoliberale Strukturreformen seien alternativlos. Die euphemistisch als „Sparen“ bezeichnete Politik stellt zumeist nur ein Potpourri aus Privatisierung und Kürzung dar.
Es ist nicht der Rat und auch nicht der Bürger, der den Handlungsspielraum des Oberbürgermeisters in der Ausübung seines Amtes beschränkt. In der Kommunalpolitik sind das längst globale Finanzmärkte, Institutionen der EU, die Bundesregierung, die Länderparlamente usw., die über die Aufgaben und die finanziellen Möglichkeiten der Städte und Gemeinden entscheiden.
Der politische Handlungsspielraum, den sich die Stadt Essen beim freiwilligen Beitritt zum Stärkungspakt II selbst zugewiesen hat, ist durch die Kürzungsvorgaben dieser von oben verordneten Schuldenpolitik tatsächlich sehr eingeschränkt. Es ist aber nicht diese Situation, die der Bürgermeister problematisiert. Er könnte dafür eintreten, die kommunale Selbstverwaltung UND die Bürger mit mehr Möglichkeiten auszustatten, ihre Lebenswelt demokratisch, sozial und nachhaltig zu gestalten. Stattdessen versucht er, für seine Position scheinbar mehr Rechte zu erkämpfen, um seine Handlungsspielräume gegenüber seinen unmittelbaren Partnern in der Kommunalpolitik, den Bürgern, dem Rat und der Verwaltung, zu erhöhen.
Die angestrebte Verschiebung oder (in seinen Augen) Richtigstellung der kommunalen Entscheidungsbefugnisse funktioniert allenfalls als Placebo oder Ablenkungsmanöver, um darüber hinweg zu täuschen, welche finanzpolitischen Abhängigkeiten und Machverhältnisse dazu führen, dass Kommunen nur noch wählen können, wo und wie sie Leistungen streichen. Unser Oberbürgermeister, Herr Paß, scheint der Meinung, dass er bei dieser Kürzungspolitik das Wohl des Bürgers besser im Blick hat, als der Rat und die Bürger selbst.
Damit steigert er die Frustration der Bürger, die sehr wohl wissen, dass die scheinbare Alternativlosigkeit der Schuldenpolitik eine bittere Kröte ist, die zu Lasten des Bürgerrechts auf soziales Leben geschluckt werden muss.
Damit leistet Paß einen weiteren Beitrag dazu, dass der Druck im Kessel der repräsentativen Demokratie steigt.
Denn nicht nur in Spanien, Portugal und Griechenland rufen die Bürger bei Protesten gegen die Kürzungspolitik ihren Politikern zu: „Ihr repräsentiert uns nicht”. In Deutschland kennt man spätestens seit Stuttgart 21 das Wort vom „Wutbürger”. Wann erkennt Herr Paß, dass nicht der Rat und die Bürger das Problem sind, sondern die Streichungen. Vielleicht bestellt ja in Zukunft ein Bürgermeister ein Gutachten, dass die rechtliche Grundlage zur Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung durch Stärkungspakte und Sparkommissare in Frage stellt und sich mit der Finanzierung der Kommunen beschäftigt. Dann müssten Bürger für Ihre Bibliotheken, Volkshochschulen, Musikschulen, Stadtarchive etc. nicht gegen den eigenen Bürgermeister kämpfen.
Dann kann man darüber nachdenken, wie man Bürger tatsächlich beteiligt an kommunaler Stadtentwicklung und Gestaltung.
Dann werden Show-Projekte, wie Essen 2030, ernst zu nehmende strategische Beteiligungsprojekte.
Stell dir vor: Essen 2030 – Eine Stadt, in der die Bürger ihre Lebenswelt demokratisch aktiv gestalten – und der Oberbürgermeister macht mit!
Wie bewerten Sie das Erreichte? Wie wollen die Aktiven weitermachen? Das sind die Fragen, mit denen die Vertretungsberechtigten jetzt gelöchert werden.
Wir haben das Dogma der alternativlosen Kürzungspolitik in Frage gestellt. Gleichzeitig wurde einer breiten Essener Öffentlichkeit vermittelt, welche erhebliche Rolle kulturelle Bildung in einer Stadt für das soziale Leben der Bürger hat. Jeder Essener soll die Möglichkeit haben, seine Talente und Interessen z.B. für Musik oder Sprachen vielfältig zu entwickeln, sich zu bilden, die Geschichte der Stadt anschaulich zu erfahren und in interkulturellen Projekten Integration aktiv zu erleben, dafür kämpfen wir weiter.
Die Dynamik von Zuspruch und Widerstand gegen falsche Prioritäten, gegen Streichungen ausgerechnet bei Kultur und Bildung, die unser Bürgerbegehren ausgelöst hat, zeigt, dass demokratische Werkzeuge wie Bürgerbeteiligung auf eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung unserer Stadt treffen.
Unsere Erfahrung beim Sammeln bestätigt: Viele Bürgerinnen und Bürger haben Vertrauen in neue Formen aktiver Beteiligung. Dies machen sie an den Inhalten von Bürgerbegehren fest, an der Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit der Akteure und nicht an der Anzahl.
Wir sehen uns bestärkt darin, weiterhin in Zukunft engagiert für kulturelle Bildung und lebendige Demokratie in Essen zu kämpfen. Das eine bedingt das andere auf dem Weg in die Zukunft. Denn: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
Anabel Jujol , Initiative kulturgutEssen